top of page
Beitrag: Blog2_Post
AutorenbildRahel Hüberli

Parallelwelt im Jahr 2022

Gestern habe ich einen absurden Ausflug in eine Parallelwelt gemacht. Eigentlich den Absurdesten meines Lebens.


Ihr könnt mich nun steinigen, mich eine Verräterin nennen, wie ihr mögt.


Meine Tochter ist seit gut vier Jahren eine leidenschaftliche Reiterin. Der Hof, bei welchem sie reitet, hatte heute einen Auftritt an der Olma. Und es war ihr sehnlichster Wunsch, den zu sehen.

Ich kann meinem Kind vieles nicht mehr bieten, und ich habe lange mit mir gerungen. Schliesslich habe ich mich entschieden, für ein Mal eine Ausnahme zu machen. Sie weiss, dass das so schnell nicht wieder vorkommt.


Also fuhren wir nach St. Gallen. Im vollen Zug.

Ich kassierte viele finstere Blicke von vielen älteren Semestern, da ich, wie fast immer, auf weiter Flur die Einzige ohne Maske war.


Der Bus ins Messegelände war dermassen vollgestopft, dass ich leicht panisch wurde. Ich habe Platzangst. Alle anderen waren blendender Laune. Endlich wieder Olma, was für ein Spass.


Die Schlange vor den Eingängen war lang, die Leute wedelten begeistert mit ihren Zertifikaten. Wie Trophäen trugen sie sie vor sich her.

Mir wurde fast schlecht. Und ich schämte mich. Am liebsten hätte ich mein Kind gepackt, um wieder nachhause zu fahren. Aber ich sah ihre glänzenden Augen und spürte ihre freudige Aufregung.

Also biss ich die Zähne zusammen und betrat mit ihr das Gelände.


Natürlich wusste ich, dass seit einer Weile wieder Grossveranstaltungen stattfinden. Und trotzdem stand ich da und staunte, wie eine Ausserirdische, die zum ersten Mal zu Besuch auf einem fremden Planeten ist.

Menschenströme. Im Innern und draussen. Alle ohne Maske. Dicht an dicht. Keine Abstände, keine Plexiglasscheiben, und weit und breit keine einzige Flasche Desinfektionsmittel.


Ich schluckte und überlegte mir, ob ich mich darüber freuen soll oder kann. Ich konnte es nicht. Keine Sekunde.


Grotesk. Das war mein erster Gedanke. Und der blieb. Wie in Watte gepackt bewegte ich mich durch die Hallen.


Da sassen und standen sie und stopften Bratwürste und Bier in sich rein, als ob nichts wäre. Als ob es kein Morgen gäbe.


Anscheinend haben sie nichts gelernt und sich nicht verändert.

Als sie im Frühjahr 2020 begeistert von der Entschleunigung sprachen, von der angeblich sauberen Lagune in Venedig, von besserer Luft und der Selbstfindung, da haben sie sich in ihre Taschen gelogen und sich gut gefühlt.

Und nun rennen sie jedem Vergnügen nach, als ob nie etwas gewesen wäre.


Ich weiss, das sind harte Worte.


Dieses Säulirennen. Ich wollte eigentlich schon nach ein, zwei Stunden dringend wieder nachhause. Unsere Pferde hatten wir längst gesehen. Und es war unglaublich kalt.

Meine Tochter aber wollte unbedingt noch das Säulirennen sehen.

Ich sah das bereits einmal. Vor drei Jahren. Damals fand ich das dermassen absurd, dass ich auch gelacht habe. Eine mir bis dato vollkommen unbekannte Tradition, die mich total verblüffte. Hauptsächlich wegen dem Moderator. Dessen Name mir entfallen ist. Der aus diesem Anlass ein unglaubliches Spektakel macht. Mir blieb damals die Spucke weg.


Ich willigte ein, obwohl mir die Kälte bereits bis in die Knochen kroch.


Fasziniert und gleichermassen angewidert beobachtete ich, wie sich die Arena füllte. Eine Unmenge von Menschen drängte sich herein, um endlich wieder auf ihre Kosten zu kommen.

Jubelnd, schreiend und hüpfend bewegte sich die Menge zur Musik.

Und als dann der Moderator verkündete, wie wunderbar es sei, dass so viele Menschen hier seien, wie dankbar er sei, dass die Olma wieder stattfinden könne für die, die wollen, und wieviel besser das doch sei, als keine Veranstaltungen durchzuführen für die, die nicht wollen, da kriegte ich nicht einmal mehr ein künstliches Lächeln zustande.


Ich wartete, bis der Zirkus vorüber war, schnappte meine Tochter und trat den Heimweg an. Nicht ohne im Zug noch eine Unterhaltung darüber mit anhören zu müssen, wie toll diese Zertifikatspflicht sei, und wie dumm und selber schuld all jene seien, die sich nicht impfen lassen.


Ich hätte mich gerne aufgewärmt, aber die Kälte blieb lange. Wie ein Sinnbild für all die verlorene Menschlichkeit, von der die wenigsten überhaupt merken, dass sie abhanden gekommen ist, oder die es vielleicht gar nie gab.




151 Ansichten1 Kommentar

1 Comment

Rated 0 out of 5 stars.
No ratings yet

Add a rating
wolfgang.wittmann1
Jan 08, 2023

Kopfkino

Like

 Top Stories 

1
2
bottom of page